Das Schönste bei einem Vorlesewettbewerb ist das Zuhören. Man taucht gleich mit dem ersten Satz in eine Geschichte ein, lernt im Nu fremde Orte und Menschen kennen, Bilder entstehen im Kopf und schon vergisst man, dass man gerade als Juror an einem stinknormalen Donnerstagvormittag zusammen in einem Klassenzimmer des MGMs sitzt.
Der literarische Zauberteppich, geknüpft von Leonie 6a, Laura 6b, Josip 6c, Farwahar 6d und Johanna 6e, bringt uns im Handumdrehen nach Damaskus, ein kleiner syrischer Junge unterhält sich dort gerade mit seinem Onkel, der zu ihm sagt: „Schade, dass ich nicht schreiben kann.“ Ich überlege kurz, ob ich nicht in einem früheren Leben Deutsch-Lehrer war, lass es aber gleich wieder sein. „Was für großartige Menschen sind doch die Chinesen“, sehe ich ihn sagen, obwohl irgendetwas in mir widersprechen möchte, „die Chinesen haben es mit der Erfindung des Papiers möglich gemacht, dass die Kunst des Lesens und Schreibens für jedermann zugänglich wurde. Sie brachten die Schrift von den Tempeln der Gelehrten und den Palästen der Könige auf die Straße.“ Aber ja! Schon mischen sich vor meinem inneren Auge arabische Klänge aus den engen Gassen der Altstadt Damaskus’ mit großartigen Tempelgebäuden und Menschen mit schwarzen Haarknoten in seidigen Gewändern. Es riecht exotisch nach einer heiß-dampfenden Brühe. „Ein toller Lehrer ist dieser Herr Katib, bei seinem Vorgänger lernten wir die Angst und den Respekt vor der Sprache kennen, bei Herrn Katib lernen wir sie lieben.“ Ja, so ein Lehrer müsste man mal sein, tönt es müde aus meinem Hinterkopf! „Früher sagte man uns, dass die Fantasie nur im Übertreiben zu finden sei, und Herr Katib lehrt uns, dass Märchen in den einfachen Dingen unseres Alltags passieren.“ Von welchem Alltag ist da die Rede? „Wozu die Schule? Es gibt viel zu viele Lehrer und Rechtsanwälte.“ Halt!
Mein Zauberteppich stürzt gerade ab. Ungläubig schaue ich in die fragenden Augen meines Kollegen neben mir in der Schulbank: „Ob Sie einen Stift für mich hätten? Für den Bewertungsbogen?“
Für wenige Bruchteile arbeitet jetzt wieder der normale Verstand, wägt ab, wertet, schreibt Punkte auf den Bogen, dann aber sofort wieder rauf auf den Teppich und ….
Beinahe hätte ich den Rückflug aus Rafik Schamis Roman „Eine Hand voll Sterne“ nicht mehr bekommen, aber Farwahar musste dann ja doch von uns allen als neue Schulsiegerin des diesjährigen Vorlesewettbewerbs der sechsten Klassen des MGMs ausführlich beklatscht werden. Herzlichen Glückwunsch!!!
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